Sehr viel Tod

Vorbemerkung: Falls Sie jetzt einen Blogpost über den heutigen Absturz eines Passierflugzeugs einer deutschen Fluglinie in Frankreich erwarten: Darum geht es in diesem Text nicht, auch wenn diese Ereignisse mich traurig machen und meine Gedanken bei allen Betroffenen und Angehörigen sind. Ich hoffe, darüber werden andere, die berufener sind als ich, entsprechend berichten. Im Licht dieser tragischen Ereignisse macht der folgende Text eventuell noch etwas mehr Sinn als an einem »normalen« Tag.

Also.

Guten Tag.

Vor einigen Monaten machte eine gute Freundin mich auf ein erstaunliches Projekt aufmerksam. Erstaunlich schon wegen des Namens: 1000 Tode schreiben.
Dieses von der Berliner Verlegerin Christiane Frohmann (bei Twitter: @FrauFrohmann bzw. #1000Tode) angestoßene Projekt beschäftigt sich auf eine sehr eigene Weise mit dem Tod.

Worum geht es?

Frau Frohmann gibt Ebooks heraus. Dieses Ebook ist ein Projekt, zu dem sie Menschen einlädt und auffordert, ihre eigene Sicht und die eigenen Erfahrungen über den Tod zu teilen. Weil die Koordination von vielen Autorinnen und Autoren nicht ganz trivial ist, hat sie dazu ein grundsätzliches Regelwerk bereitgestellt, für alle, die sich daran beteiligen wollen. (Hier der Dropbox-Link dazu.)
Die Autoren dürfen über den Tod schreiben, was sie dazu schreiben wollen; selbstverständlich behält sich Frau Frohmann das Recht der Verlegerin vor, einen Text zu veröffentlichen oder auch nicht. Als Grenze sind den Autoren 3.000 Zeichen gesetzt, eine Mindestlänge für den Text gibt es nicht. Allerdings ist die Obergenze im Einzelfall verhandelbar, der eine oder andere längere Text ist ebenfalls in dem Buch zu finden.
Da das Ebook Geld kostet (4,99 Euro), ist das natürlich auch ein Thema. Die Autoren bekommen nichts. Frau Frohmann auch nicht. Das Geld geht laut Ihrer Aussage an ein Kinderhospiz in Berlin.

Was steht drin?

Hm. Vieles. Wie Objektiv kann und will die Rezension eines Menschen sein, der selbst an diesem Projekt teilnimmt? Nehmen Sie diese Information einfach für den Rest dieses Textes mit und urteilen Sie selbst.
Ich bekam die Version des Buches nach der zweiten Veröffentlichung (insgesamt sollen es vier Iterationen bis zur Buchmesse in Frankfurt im Herbst werden) in die Hand. Und las. Und las. Und las weiter. Vieles, nicht alles. Kurze Texte, lange Texte. Texte, denen ich eine hohe literarische Qualität zusprechen würde. Texte, bei denen das nicht so ist. Ich las Texte von Menschen, die ich nicht kenne. Texte von Menschen, die ich sehr schätze und Texte von Menschen, denen ich in diesem Leben nicht mehr begegnen will.

Was mich an den Texten berührt? Alles. Welche Texte mich berühren? Alle.

Weil es um ein Thema geht, mit dem wir alle zu tun haben und das uns in unseren Grundfesten erschüttern kann wie kein Zweites. Und weil jeder der Schreibenden uns ein Geschenk macht, in dem er uns an einem kleinen Stück einer sehr intimen Erfahrung und seiner Gefühlswelt teilhaben lässt. Dafür: Meinen Dank an alle, deren Texte ich lesen durfte.

Ob Sie das Lesen sollten? Ich weiß es nicht. Ich kenne Ihr Leben nicht, auch nicht Ihr Verhältnis zum Tod. Ich würde es jedenfalls wieder tun, denn ich habe viel gelernt dabei.

Ach ja. Als vollkommen unrepräsentativen Vorgeschmack kann ich Ihnen Text Nr. 358 anbieten. Denn der ist von mir.

358

Eintausend Tode. Sterben wir alle. Zumindest im Lauf der Zeit.

Wenn die geliebte Oma stirbt und du nicht mehr ans Krankenbett darfst, weil du ja noch klein bist.

Wenn die Liebe der Eltern über viele Jahre stirbt. Und du nichts tun kannst, obwohl du das Gefühl hast, irgendwie verantwortlich zu sein.

Wenn der erste aus dem Freundeskreis sich den Goldenen Schuss setzt. Ganz ohne Dokusoap. Und du dich fragst, ob du nicht mehr hättest für ihn tun können, sollen, müssen.

Wenn der erste „Ausländer“, den du kennst, in deiner Heimatstadt von tumben Dorfnazis zum Spaß totgeschlagen wird. Und du im Urlaub bist, am Strand, wo es schön ist.

Wenn du die erste, große, heiße Liebe wiedertriffst und sie von einem Anderen schwanger ist und du dich fragst, was wohl geworden wäre, wenn du dich damals nicht wie so ein trauriges Arschloch verhalten hättest.

Wenn du Zeuge wirst, wie ein Mensch durch Gewalt stirbt. Und du nichts tun kannst, weil du hilflos bist und starr vor Schrecken, Angst und Feigheit.

Wenn deinem Vorgesetzten aus dem Nichts heraus der Kopf abgeschossen wird, in einem gottlosen Land, in einem gottlosen Krieg für gottloses Öl und gottlosen Profit. Und du plötzlich der bist, der fünfzig Leben und Lieben und Träume beschützen muss. Damit du nicht fünfzig weitere Tode sterben musst.

Wenn du tötest, weil du leben willst.

Wenn sie es nicht mehr aushält mit dir, weil du jede Nacht schreiend aufwachst, der vielen Tode wegen. Und du dich fragst, ob du jemals wieder ein Mensch sein darfst.

Wenn du Gutes tun willst und versagst. Und nicht weißt, wie du es erklären kannst, sollst, willst.

Wenn du siehst, wie Menschen in ihr Unglück rennen, mit offenen Augen, lachend, immer schneller und schneller und sie dich nicht rufen hören.

Dann stirbst du einen Tod.

Aber das ist nicht schlimm. Es sind noch viele Tode übrig.

Sehr viel Tod